Vollverzinsung verfassungswidrig – Neuregelung ab 2019 erforderlich
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat am 18. August 2021 seine lang erwartete Entscheidung zur Vollverzinsung veröffentlicht. Demnach ist die gesetzlich geregelte 6%-Verzinsung von Steuernachforderungen und -erstattungen für Verzinsungszeiträume ab dem 01.01.2014 verfassungswidrig.
Die Finanzämter dürfen das Gesetz jedoch aufgrund einer Fortgeltungsregelung noch für Verzinsungszeiträume bis einschließlich 31.12.2018 weiter anwenden. Für Verzinsungszeiträume ab dem 01.01.2019 wird dem Gesetzgeber allerdings die Verpflichtung auferlegt, bis zum 31.07.2022 eine verfassungsgemäße Neuregelung zu verabschieden.
Hintergrund: Grundlage der Klage waren Verzinsungen von Gewerbesteuer-Nachforderungen für die Zeiträume vom 01.01.2010 bis zum 14.07.2014. Nach Auffassung des BVerfG werden Steuerpflichtige mit Steuerfestsetzungen nach Ablauf der zinsfreien Karenzzeit von 15 Monaten im Vergleich zu Steuerschuldnern mit Steuerfestsetzungen während der zinsfreien Karenzzeit benachteiligt. Für Verzinsungszeiträume von 2010 bis 2013 kann diese Ungleichbehandlung noch gerechtfertigt werden, jedoch ist diese Regelung in Bezug auf Verzinsungszeiträume ab dem 01.01.2014 nicht mehr mit dem Grundgesetz vereinbar, da sich nach der Finanzkrise im Jahr 2008 ein strukturelles Niedrigzinsniveau entwickelt hat. Spätestens seit dem Jahr 2014 erweist sich der jährliche Zinssatz von 6% daher als realitätsfern.
Entscheidung: Der Beschluss des BVerfG hat insbesondere folgende Auswirkungen:
- Die Regelung der Verzinsung umfasst sowohl Steuernachforderungen als auch Steuererstattungen zur Einkommen-, Körperschaft-, Vermögen-, Umsatz- oder Gewerbesteuer.
- Die Verfassungswidrigkeit erstreckt sich nicht auf andere Verzinsungstatbestände wie Stundungs-, Hinterziehungs-, Aussetzungs- und Prozesszinsen. Diese Zinsen müssen jetzt gezahlt werden.
- Für Verzinsungszeiträume vom 01.01.2014 bis zum 31.12.2018 gilt das bisherige Recht weiterhin. Zinsfestsetzungen, die bisher noch vorläufig oder in ihrer Wirkung ausgesetzt waren, werden nun endgültig. Falls die Finanzämter für diesen Verzinsungszeitraum die Aussetzung der Vollziehung gewährt und damit vorläufig auf die Zahlung verzichtet haben, müssen diese nun vom Steuerpflichtigen nachentrichtet werden.
- Für die Verzinsungszeiträume ab dem 01.01.2019 hingegen sind die bisherigen Vorschriften nicht mehr anwendbar. Für diesen Verzinsungszeitraum sind jegliche Festsetzungen von Zinsen auf Steuerforderungen und -erstattungen bis zur verfassungsgemäßen Neuregelung auszusetzen.
Verwaltungsauffassung: Das BMF hat mit Schreiben vom 17.09.2021 zur Zinsfestsetzung für Verzinsungszeiträume ab dem 01.01.2019 Folgendes geregelt:
- Bei allen Bescheiden, bei denen erstmalig Nachzahlungs- oder Erstattungszinsen festgesetzt würden, werden vorläufig keine Zinsen festgesetzt. Sobald die Neuregelung des Gesetzgebers in Kraft tritt, wird das Finanzamt die Verzinsung nachholen.
- Noch nicht endgültige Bescheide, die vor der Entscheidung des BVerfG ergangen waren, bleiben weiterhin vorläufig, solange sie von keinem der Beteiligten geändert bzw. berichtigt werden. Nach Inkrafttreten der Neuregelung werden die Finanzämter die Änderungen eigenständig vornehmen.
- Bei Bescheiden, die vor der Entscheidung des BVerfG ergangen sind und jetzt aus anderen Gründen geändert bzw. berichtigt werden, gilt Folgendes: Bei einer Nachzahlung werden analog zu Bescheiden mit Neufestsetzung (s.o.) vorläufig keine zusätzlichen Zinsen festgesetzt. Bei einer Erstattung wird das Finanzamt die insoweit zuvor zu viel gezahlten Nachzahlungszinsen wiedererstatten.
Hinweis: Unklar ist die Rechtslage bei Erstattungszinsen. Die Finanzverwaltung geht wohl davon aus, dass (zu hohe) Zinserstattungen für den Zeitraum ab dem 01.01.2019, deren Festsetzung nach § 165 AO vor dem Beschluss des BVerfG vorläufig erfolgte, nach der Neuregelung des Gesetzgebers von den Steuerpflichtigen zurückgefordert werden können. Demgegenüber geht die herrschende Literaturmeinung davon aus, dass – ungeachtet der nur vorläufigen Zinsfestsetzung – für die Steuerpflichtigen Vertrauensschutz nach § 176 Abs. 1 Nr. 1 AO besteht. In diesem Sinne hat das BVerfG den Finanzbehörden ausdrücklich eine Einzelfallprüfung auferlegt, die herausfinden soll, ob einer nachträglichen Herabsetzung der Erstattungszinsen diese Vertrauensschutzregelung entgegensteht. Im Ergebnis bestehen somit gute Chancen, dass Erstattungszinsen nicht zurückgefordert werden können.